
„Es ist unbegreiflich, wie Ärzte derartige Verbrechen begehen konnten!“
Die Wanderausstellung „Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ist gestern unter Mitwirkung des Kurators Dr. Ulrich Prehn und der Historikerin Dr. Anna von Villiez in der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (KVH) eröffnet worden. Unter den rund 100 Gästen befanden sich auch der Landesrabbiner Shlomo Bistritzky sowie Philipp Stricharz, 1. Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Hamburg. Die Ausstellung, die bis zum 26. Mai in Hamburg gastiert, ist montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr in der KVH kostenfrei zu besichtigen.
John Afful, Vorstandsvorsitzender der KVH, begrüßte die geladenen Gäste: „Das Leid, das in der Zeit des Nationalsozialismus verursacht und begründet wurde, ist unbeschreibbar, unbegreifbar und unendlich. Auch unzählige Ärzte waren Täter und in umfänglicher Weise in diese grausamen Verbrechen eingebunden und an ihnen beteiligt.“ Er betonte die Verantwortung des KV-Systems sowie der Gesellschaft insgesamt, sich kritisch mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen und die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus wachzuhalten.
Dr. Björn Parey, stellvertretender Vorsitzender der Vertreterversammlung der KV Hamburg, betonte: „Es ist unbegreiflich, wie Ärzte, die dem Hippokratischen Eid verpflichtet sind, derartige Verbrechen begehen konnten – Recht in Unrecht verkehrten und grundlegende ethische Maßstäbe ignorierten.“ Er warnte davor, diesen Teil der deutschen Geschichte als abgeschlossen zu betrachten: „Wir tragen eine Verantwortung dafür, dass so etwas nie wieder geschieht.“
Dr. Anna von Villiez, Historikerin und Leiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule, betrachtete in ihrem Vortrag die Rolle der Hamburger Ärzteschaft während des Nationalsozialismus. Sie wies darauf hin, dass die Aufarbeitungsgeschichte in Hamburg dem bundesweiten Muster einer jahrzehntelangen kollektiven Verdrängung gefolgt sei: „Täter wie Kurt Heißmeyer oder Werner Heyde konnten jahrelang erfolgreiche Karrieren fortsetzen.“ Heißmeyer hatte als SS-Arzt qualvolle Experimente an Häftlingen und Kindern im KZ Neuengamme durchgeführt; Heyde war für Zehntausende Morde an Psychiatriepatienten verantwortlich. „Noch heute tut sich Hamburg schwer mit manchen erinnerungspolitischen Aufgaben“, betonte von Villiez.
Dr. Ulrich Prehn, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin und Kurator der Ausstellung, gab Einblick in das Forschungsprojekt, aus der die Ausstellung hervorgegangen ist. „Wir zeigen Geschichte mit Hilfe von Fallbeispielen und Einzelschicksalen, von Tätern und Opfern. „Eins der besonders beeindruckenden Interviews ist das von Dr. Hans Engel – Sohn des aus Hamburg vertriebenen Ärzteehepaars Dr. Heinrich Engel und Dr. Toni Engel, geb. Blumenfeld. Engel emigrierte 1935 nach Großbritannien, wo er Medizin studierte. Besonders berührend sind seine Schilderungen darüber, wie er ab Ende April 1945 bei der medizinischen Versorgung der Insassen des Kriegsgefangenenlagers Sandbostel half – und vielen das Leben rettete.“
Musikalisch begleitet wurde der Abend von Idan Levi und Astrid Müller an Flöte und Bratsche mit Stücken von Josef Rosenblatt, Felix Mendelssohn und Paul Ben-Haim.
Weitere Informationen zur Ausstellungseröffnung und Pressefotos der Eröffnungsveranstaltung finden Sie auf www.kvhh.de, weitere Information zur Ausstellung auf www.systemerkrankung.de.
Die Wanderausstellung „Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“ bildet den Abschluss eines Forschungsprojekts, das von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung initiiert wurde. Dieses Projekt untersucht die Vorgängerorganisation Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD), die während des „Dritten Reichs“ maßgeblich an der Vertreibung jüdischer und oppositioneller Ärztinnen und Ärzte beteiligt war. Wissenschaftler des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin haben hierfür die noch existierenden Aktenbestände der KVD ausgewertet und die gewonnenen Erkenntnisse in Form einer Wanderausstellung aufbereitet. Die Ausstellung behandelt ein breites Themenspektrum – von der Gleichschaltung der ärztlichen Standesvertretung über die Verdrängung jüdischer Ärztinnen und Ärzte bis hin zu den Verbrechen, die im Namen der sogenannten „Volksgesundheit“ begangen wurden. Anhand konkreter Fallgeschichten von Ärztinnen und Ärzten sowie Patientinnen und Patienten – auch aus Hamburg – wird Geschichte auf einer persönlichen Ebene erfahrbar.